„Fotograf zu sein, ist die einfachste Sache auf der Welt – man braucht nur den Knopf zu drücken. Aber das Schwierigste ist, ein Bild zu machen, das man sich lange ansehen kann.“
Rund sechzig Jahre währt die Liaison zwischen Ralph Gibson und Leica bereits, kaufte er sich doch schon als Berufsanfänger die erste Leica, eine M2. Damals noch mühsam auf Raten abbezahlt und weit entfernt von einer einträglichen Karriere, sollte ihm die neue Kamera allerdings entscheidend dabei helfen, seine eigene fotografische Vision umzusetzen. Erste Grundlagen einer soliden Ausbildung zum Fotografen hatte er bereits bei der US Navy und am San Francisco Art Institute erworben, bevor er von 1961 bis 1962 bei Dorothea Lange und später von 1967 bis 1968 bei Robert Frank assistierte. Gibsons Stil war schon früh stark von grafischer Komposition mit ausgeprägten Schwarzweiß-Kontrasten bestimmt. Von seinem Ziel, als Fotojournalist zu arbeiten, verabschiedete sich Gibson rasch. Zwar war er 1966 nach seinem Umzug von Los Angeles nach New York für einige Monate probeweise in der Agentur Magnum Photos tätig, doch er erkannte spätestens dort, dass „die kommerzielle Auftragsfotografie nicht mein Schicksal sein würde“. Vielmehr war er auf der Suche nach selbstbestimmten Inhalten und einer eigenen autonomen Bildsprache: „Meine Arbeit hatte sich verändert. Sie war nicht mehr dokumentarisch und beschäftigte sich nicht mehr mit dem menschlichen Dasein, sondern wurde surrealer, was zu meinem ersten Buch The Somnambulist führte“, so Gibson. Der 1970 im Selbstverlag veröffentlichte Bildband war in der Tat ein Durchbruch, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern vor allem auch in der Wahrnehmung als Fotograf und Verleger. In den Folgejahren sollte Gibson konsequent seine Bildsprache weiterentwickeln. Seine Motive, die er weiterhin in zahlreichen Bildbänden in seinem Verlag Lustrum Press veröffentlichte, wurden schnell stilprägend und dienten als Vorbild für viele Fotografen. Sein Werk markiert beispielhaft den Wandel der amerikanischen Fotografie der 1970er-Jahre, die sich nun deutlich individualistischer und weniger bildjournalistisch oder dokumentarisch orientierte und in der Folge auch stärker und selbstverständlicher als künstlerisches Medium wahrgenommen wurde. Lange blieb Gibson ein Verfechter analoger Fototechnik, aber der Gebrauch einer Leica Monochrom veränderte 2013 seine Haltung: „Seitdem habe ich keine Filmrolle mehr eingelegt“, so Gibson, denn auch die digitalen Bilder spiegeln einzig „meine Vision wider. Sie sind dieselben. Aber anders.“ Seine klaren, grafisch perfekt gestalteten Aufnahmen, mit denen er oft sehr nah an die Motive herangeht, sind stets sofort wiedererkennbar. Sie wirken abstrakt, ohne jedoch den Bezug zur Realität ganz aufzugeben. Neben präzisen Objektstudien, surreal anmutenden Kompositionen, aber auch spontan wirkenden Straßenszenen gehören nicht zuletzt exquisite Aktaufnahmen zum wiederkehrenden Repertoire des Fotografen. Ob geheimnisvoll-emotional oder klar erkennbar, ob analog oder digital, ob schwarzweiß oder seltener auch in Farbe: Ohne Zweifel hat Ralph Gibson ein vielschichtiges, spannendes Lebenswerk geschaffen, für das er nun mit dem Leica Hall of Fame Award geehrt wird.
Ralph Gibson, geboren am 16. Januar 1939 in Los Angeles, erlernte die Fotografie bei der US Navy und von 1960–62 am San Francisco Art Institute und war als Assistent bei Dorothea Lange und Robert Frank tätig. Auch mit dem 1969 von ihm gegründeten Verlag Lustrum Press hat Gibson Fotografiegeschichte geschrieben. Hier erschienen über 40 Monografien sowie zahlreiche bedeutende Werke anderer Fotografen und Kompendien. Gibson ist in den wichtigsten Sammlungen und Museumskollektionen vertreten, wurde international ausgestellt und vielfach ausgezeichnet, darunter 1988 mit der Leica Medal of Excellence und 2018 mit dem L’ordre national de la Légion d’honneur. Er lebt in New York.