Auf Streifzug durch die Straßen von New York
Man könnte meinen, die Geschichten dieser Stadt seien längst erzählt.
Dass die Bilder, die New York preisgibt, für jene, die hier leben oder oft hier waren, nichts Neues bereithalten. Und doch: Wer mit Thomas Hoepker durch New York streift, merkt schnell, dass diese Stadt ein Buch ohne Schluss ist. Eine unendliche Geschichte aus Szenen, Brüchen, Zufällen. Ein Zirkus, der immer wieder etwas Überraschendes bietet, ein Programm voller visueller Abenteuer, mitten in einem urbanen Strom, der nie versiegt.
Sonja Kruchen, langjährige Leica Galeristin und Nichte des Fotografen berichtet über ihre gemeinsamen Streifzüge durch New York.
Zeitzeugin
Ich hatte das große Glück, Thomas über viele Jahre zu begleiten, auch auf Streifzügen, die ebenso Arbeitsalltag wie Entdeckungstour waren. Was ich sah, war New York durch mehrere Linsen: durch seine Kamera, durch meine eigenen Augen als temporäre Zeitzeugin und später als Betrachterin seiner Werke in Ausstellungen. Jede dieser Perspektiven eröffnet eine andere Wahrheit derselben Stadt. Thomas fand seine Geschichten fernab der Postkartenkulissen, fernab des erwartbaren „New York Looks“. Er suchte das, was die Fassade sprengt – Brüche, Widersprüche, das Unbeachtete.
Vielleicht war es genau diese Haltung, die ihn 1989 als ersten Deutschen zur Agentur Magnum Photos führte, deren Präsident er später wurde. Sein journalistischer Blick blieb dabei immer klar: Er inszenierte nicht. Er wartete. Auf den Moment, der sich von selbst ergibt. Auf Szenen, die nicht erfunden werden müssen, weil sie längst existieren, man muss sie nur sehen. New York war für ihn Weltbühne und Labor zugleich: Welthauptstadt der Fotografie, des Journalismus, ein Ort, an dem das Leben mit grellem Leuchten und tiefem Schatten gleichermaßen auftritt. Besonders faszinierten ihn Gegenden wie New Jersey, Orte, von denen aus die Skyline Manhattans wie ein glitzernder Mythos erscheint, während im Vordergrund Schutt, Chaos und gelebte Realität liegen.
Dieser Kontrast, sagte er oft, sei der wahre Herzschlag der Stadt: Verfall und Wiederaufbau, Reichtum und Armut, Hoffnung und Ernüchterung, dicht beieinander, manchmal nur durch eine Straße getrennt.
Er hat von der Malerei gelernt: Komposition, Farbe, Balance. Aber auch die Kunst des Weglassens. Schwarzweißfotografie begriff er als pure, ursprüngliche Art von Fotografie, die für ihn doch manchmal sehr viel intensiver als das Farbfoto war. Und während wir durch die Stadt liefen, lernte ich, wie sein Blick funktionierte: unsichtbar sein, nicht eingreifen, nicht stören. Der Fotograf als stiller Beobachter.
New York ist ein Tiger. Man reitet diesen Tiger jeden Tag. Der Tiger kann einen tragen, kann einen durch die Straßen führen im wunderbaren Galopp – das kann ein aufregendes Abenteuer sein. Oder der Tiger kann einen anfallen und seine Klauen zeigen. Die Stadt verstärkt immer die Stimmung, die man selber hat.
Thomas Hoepker
Bilder, die bleiben
Unter den vielen Fotografien, die im Laufe der Jahre entstanden sind, gibt es einige, die mich besonders fesseln. Lovers’ Lane etwa, ein Bild, das nicht nur die Liebe zwischen zwei Menschen zeigt, sondern auch die Liebe zu einer Stadt, die ständig zwischen Nähe und Distanz schwankt. Oder die Aufnahme vom Times Square: Taxis, Kreuzungen, ein Gewimmel aus Menschen und Strukturen. Ein Bild, das sich wie ein Puls anfühlt, chaotisch, lebendig, vibrierend. Als Kontrast dazu, und gerade diese Kombination mag ich sehr, steht das Bild World Trade Center as seen from Brooklyn, kurz NY Skyline. Für mich verkörpern sie die gesamte Bandbreite der Emotionen, die New York in mir weckt: mal aufregend und kräftezehrend, zugleich belebend, mal lyrisch und meditativ.
Was ich von diesen Streifzügen mitnehme?
Jeder Weg hatte ein Ziel, ein Museum, ein Restaurant, eine Veranstaltung, und doch war am Ende immer die Stadt selbst das wahre Ziel. Selbst nach 50 Jahren fotografischer Präsenz hörte New York für Thomas nie auf, spannend zu sein. Und ich lernte, mitzuschauen: meine Augen wanderten mit, schärften sich an seinen Beobachtungen, antizipierten Momente, bevor sie geschahen. Es war ein Spiel zwischen Begleiten und Verfolgen, zwischen Warten und Hinterherhetzen, zwischen Humor und bitterer Realität. Seine Bilder waren mal poetisch, mal rau, aber immer unverkennbar „hoepkeresk“, durchdrungen von dieser Mischung aus Klarheit, Humanismus und stiller Ironie.
Ein persönlicher Moment: Empire State Building
Eines der emotional prägendsten Bilder, dessen Entstehungszeuge ich war, entstand auf dem Empire State Building, zufällig an meinem Geburtstag. Ich weiß noch, wie wir dort standen, der Wind in scharfen Böen, Touristen, die an uns vorbeiströmten, und New York unter uns wie ein Mosaik aus Energie. Später als ich das „fertige“ Bild erst auf dem Bildschirm, dann als Print und später in einer Ausstellung hängen sah, spulte mein Inneres sofort die Erinnerung zurück: die Kälte, die Vorfreude, die eigenartige Mischung aus Nähe und Erhabenheit.
Die Galerie als Resonanzraum
Und da steht man nun, in einem stillen Galerieraum, blickt auf ein Foto und hält die Zeit an. Der Entstehungsraum und der Betrachterraum überlagern sich. Der Tiger, der damals um uns herum brüllte, wird zur gezähmten Erinnerung. Das pulsierende Draußen wird im Innenraum zur kontemplativen Fläche.
Eine Galerie verändert den Blick. Der weiße Raum ist ein Kontrapunkt zur urbanen Dichte New Yorks. Wo draußen Lärm, Eile und Überreizung herrschen, entsteht hier ein „visuelles Innehalten“. Besucher*innen bewegen sich langsamer, bewusster. Das Licht fällt klar auf die Bilder, der Boden reflektiert ihr Schwarzweiß oder ihre Farbflächen. Und plötzlich wirkt New York ruhig - etwas, das es im echten Leben kaum je ist.
Zwischen den Fotografien entsteht eine unsichtbare Architektur: eine Stadt aus Erinnerung, aus Licht, aus Momenten, die in der Wirklichkeit flüchtig waren und hier eine zweite Existenz erhalten. Thomas‘ Werk wird im Galeriekontext nicht nur gezeigt, sondern hörbar gemacht. Der Raum wird Resonanzkörper, für Straßenlärm, für Geschichten, für die leisen Zwischentöne menschlicher Begegnungen.
Thomas‘ Bilder sind Fundstücke einer Wirklichkeit, die wir im Alltag oft übersehen.
Beim Verlassen der Ausstellung bleibt ein eigenartiges Gefühl zurück. Man hat New York gesehen, ohne dort zu sein, und doch war man mittendrin. Die Bilder wirken nach wie eine Melodie, die man nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Sie erzählen von einer Stadt, aber auch vom Menschen in der Stadt: von Anonymität und Nähe, von Sehnsucht, Routine und dem flüchtigen Glanz des Vorübergehens.
Thomas‘ New York ist nicht nostalgisch, nicht verklärt. Es ist ehrlich. Und genau deswegen ist es so berührend. In einer Welt, in der Bilder im Sekundentakt erscheinen und verschwinden, erinnern uns seine Fotografien daran, dass Sehen eine Form des Denkens ist und Erinnerung eine Form von Zugehörigkeit. So trete ich aus der Galerie heraus, die mir noch einmal bewusst macht, was all diese Streifzüge mir geschenkt haben: Eine Stadt, die man nie ganz erfassen kann, die sich aber immer wieder neu entdecken lässt. New York ist für mich untrennbar mit meinen Erinnerungen an Thomas verbunden. Wann immer ich durch die Straßen gehe, spüre ich, wie er mich ein Stück auf meinem Weg begleitet.
Der Blogbeitrag ist im Rahmen der Ausstellung Thomas Hoepker „New York“ in der Leica Galerie in Heidelberg verfasst worden.
Ausstellungsdauer: 13. Dezember 2025 bis 15. März 2026
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag: 10:00 - 18:30 Uhr, Samstag: 10-18 Uhr