Vom Impuls zur fertigen Ausstellung
Dr. Verena Jendrus, Galeristin der Leica Galerie Stuttgart, gewährt exklusive Einblicke in die kuratorische und konzeptionelle Arbeit innerhalb einer Leica Galerie. Am Beispiel der Ausstellung „Flüchtige Momente“ von Fred Stein wird anschaulich, wie sich die kuratorische Praxis in der Auswahl, Inszenierung und Vermittlung fotografischer Werke manifestiert.
Fred Stein
Die initiale Idee
Der initiale Antrieb für ein künftiges Ausstellungsprojekt hat verschiedene Formen und reicht von einem langfristigen wissenschaftlichen Interesse, einer persönlichen Begegnung bis hin zu einer spontanen Begeisterung für das Œuvre eines Künstlers, eine konkrete Werkserie oder sogar ein einzelnes Kunstwerk.
Gleichzeitig muss das mögliche Ausstellungsprojekt in die Konzeption und Zielsetzung der Institution passen. In diesem Fall die Leica Galerie Stuttgart - eine von weltweit 28 Leica Galerien, welche von unterschiedlichen Galerieleiter*innen individuell bespielt werden. Eine jede Ausstellung ist also eine Mischung aus Markenidentität, inhaltlicher Konzeption, individuellem Einfluss und – Zufall?
Im Fall der aktuellen Ausstellung, ist das persönliche Kennenlernen und die direkte Sympathie mit dem Sohn des bereits verstorbenen Fotografen die Basis für das Ausstellungsprojekt: 2024 hat in Kooperation zwischen der Staatsgalerie Stuttgart, dem Deutsch-Amerikanischen Zentrum Stuttgart und der Leica Galerie Stuttgart eine Filmvorführung stattgefunden. Peter Stein ist erfolgreicher Kameramann mit leitender Position in über 50 Filmprojekten und hatte eine Professur an der New York University. Parallel hat er über das Leben und Werk seines Vaters den Kinodokumentarfilm "OUT OF EXILE - Photography of Fred Stein" produziert und bemüht sich als Leiter des Fred Stein Archivs zusätzlich um die angemessene Rezeption des fotografischen Schaffens seines Vaters.
Als Kunsthistorikerin kannte ich die Porträtfotografien von Fred Stein bereits aus der wissenschaftlichen Arbeit und habe mich gefreut, den Sohn des verstorbenen Fotografen persönlich kennenzulernen. Es war eine kurze Begegnung mit intensivem Gespräch und sofortiger Sympathie - eine großartige Basis für eine mögliche Zusammenarbeit.
Dr. Verena Jendrus: Nach der persönlichen Begegnung setzte ich mich erneut mit dem Werk von Fred Stein auseinander und in mir keimte die Idee einer Ausstellung. Denn auch wenn der Fotograf Fred Stein weitgehend unbekannt ist, stammen von ihm einige ikonische Fotografien des 20. Jahrhunderts. In jedem Fall Teil des kollektiven Gedächtnisses ist das Porträt von Albert Einstein, welches 1946 in Princeton (New Jersey) aufgenommen wurde. Weiter lässt sich seine Porträtsammlung wie ein Who-Is-Who des gesellschaftlichen und intellektuellen Lebens seiner Zeit lesen, darunter Bertolt Brecht, Willy Brandt und Marlene Dietrich. Ebenfalls wegweisende Beiträge zum sich etablierende Genre der Street Photography und wichtige Zeitdokumente sind seine sozialen und gesellschaftspolitischen Fotografien, welche die Impulse des "Neuen Sehens" aufgreifen.
Konzeption
Parallel zu der inhaltlichen Begeisterung und einer ersten gedanklichen Liste von wichtigen Motiven, stehen Fragen der Organisation im Raum. Wann passt die Ausstellung in das Programm der Galerie. Sind die finanzielle Machbarkeit sowie die Bereitschaft von Peter Stein als Nachlassverwalter gegeben?
Der inhaltliche Schwerpunkt der Ausstellung war schnell klar. Es ist seine Zeit in Paris - denn hier hat Fred Stein mit der ersten in Serie gefertigten Kleinbildkamera fotografiert. Vor 100 Jahren hat Leica mit der Einführung der Leica I als erste in Serie gefertigte Kleinbildkamera die Fotografie revolutioniert. Das Jubiläum bietet einen inhaltlichen Anker an die Firmengeschichte der Marke und gleichzeitig wird ein historischer Fotograf ikonischer Motive dem lokalen Publikum nahgebracht.
Nachdem der Anknüpfungspunkt für ein Ausstellungsthema gefunden ist und die ersten Rahmenparameter zwischen beiden Ausstellungsparteien abgesteckt sind, geht es in die Konkretisierung und Umsetzung des Ausstellungsprojekts. Hierzu haben Peter Stein und ich uns digital über die Werkauswahl ausgetauscht. Aus der Fülle des vorhandenen Materials musste eine Auswahl von 40-50 Fotografien getroffen werden. Es werden Motive festgelegt, welche auf keinen Fall fehlen dürfen. Daraus ergeben sich Themenkomplexe. Weitere Motive kommen hinzu, an anderen Stellen muss die Anzahl der Motive wieder reduziert werden. Man überprüft: Lassen sich die wichtigsten Themen zum Œuvre des Fotografen anhand der ausgewählten Fotografien erzählen?
Am Beispiel der Porträts soll dieser Gedankengang konkret nachgezeichnet werden: Wer hat sich von Fred Stein porträtieren lassen? Ist in der Ausstellung eine repräsentative Auswahl vorhanden Mit dem Porträt von Albert Einstein sowie der großformatigen Reproduktion eines Kontaktabzugs aus dieser Porträtsitzung als szenografisches Element, sind bereits zwei unterschiedliche Aspekte abgedeckt: Wiedererkennung und Verortung des Fotografen als wichtiger Porträtfotograf seiner Zeit und Thematisierung des Auswahlprozesses durch das Sichtbarmachen des Kontaktabzugs.
Die weiteren Porträts erzählen von der Rolle der Porträtfotografie für Fred Stein: Während in Paris einzelne Porträts – gleichwertig zu seinen Straßen- und Sozialfotografien entstanden sind – wird die Porträtfotografie in New York zu einer wichtigen Einnahmequelle für die Familie. Der vielbelesene Fred Stein unterhält sich angeregt mit den zu Porträtierenden und lässt sie durch die Gespräche die Kamera nahezu vergessen. Die entspannte Atmosphäre wird dadurch unterstützt, dass Stein die Persönlichkeiten in deren privatem Umfeld aufsucht. Mit Willy Brandt ist ein Politiker in der Ausstellung vertreten. Mit Bertolt Brecht (1935) ein frühes und mit Hermann Hesse (1961) ein spätes Literatenporträt.
Der Schnappschuss von Robert Capa und Gerda Taro (1936) erzählt anhand zweier bedeutender Fotografen indirekt von der prekären Situation der Flüchtlinge. Gleichzeitig ist es ein besonderes historisches Dokument, da es sich um das einzige Doppelporträt der früh im Krieg umgekommenen Gerda Taro und des erfolgreichen Kriegsfotografen Robert Capa handelt. (Vgl. Irme Schaber: Freiheit im Fokus, 2024) Das Porträt von Hannah Arendt unterstreicht das Vertrauen, welches die Theoretikerin und Publizistin Fred Stein entgegenbringt. Sie lässt sich mehrfach von ihm Porträtieren. Viele kennen die Philosophin durch seine Porträts – meist ohne den Namen des Fotografen zu wissen.
Da es sich in der Ausstellung nicht um Vintage Prints sondern um Modern Fine Art Prints in einer Auflage von 25 Exemplaren handelt, mussten bei der Motivwahl glücklicherweise keine Einschränkungen hingenommen werden. Die Nummern der Abzüge erzählen in der Ausstellung von der Beliebtheit einzelner Motive und der Anzahl der noch verfügbaren Abzüge.
Glücklicherweise hat Peter Stein zugestimmt für die Ausstellung in Stuttgart sowie die parallel stattfindende Ausstellung in Salzburg jeweils eine Sonderedition herauszugeben. Diese Edition mit ebenfalls 25 Exemplaren kann exklusiv am Ausstellungsort erworben werden. Erneut geht man die Motive durch – es ist nicht immer leicht sich für das richtige Motiv zu entscheiden. Erneut wird inhaltlich gedacht und Vorschläge ausgetauscht – die möglichen Motive werden auf ihre Wirkung im angedachten Format überprüft und es wird über die Gefälligkeit der Motive für potenzielle Käufer diskutiert
Dr. Verena Jendrus: Während in der Galerie im Anschluss vor allem administrative Themen wie Druckerzeugnisse zur Ausstellung, Presseankündigungen und die Planung der Veranstaltungen behandelt werden, widmet sich Peter Stein in New York der Produktion der Abzüge. Jeder Abzug wird mit einem Nachlassstempel autorisiert, nummeriert und signiert. Anschließend werden die Fotografien sicher verpackt und versichert verschickt - es ist ein besonderes Erlebnis die Abzüge zum ersten Mal in der Hand halten zu dürfen.
Anders als viele Fotografen heute, legte Fred Stein von jedem Motiv den für ihn stimmigen Ausschnitt fest – die Seitenverhältnisse variieren dadurch stets. Jedes Passepartout muss also individuell ausgemessen werden, damit die Prints anschließend perfekt im Rahmen präsentiert werden können. Aus dem kleinen, dünnen Stapel der angelieferten Prints, wird so das Volumen der Ausstellung, welches darauf wartet den Ausstellungsraum einnehmen zu dürfen.
Zusätzlich zur Werkauswahl werden weitere Ideen besprochen. So ist für den Tag nach der Vernissage eine Kinovorführung mit anschließendem „Directors Talk“ mit Peter Stein im nahegelegenen Arthaus-Kino geplant und es wird zusätzlich eine inhaltliche Anknüpfung an die Staatsgalerie Stuttgart geben. Dr. Elke Allgaier, Kuratorin Archive, hat im Archiv mehrere Porträts von Fred Stein entdeckt, welche er vom deutschen Kunsthistoriker und Kunstkritiker Will Grohmann aufgenommen hat.
Auswahl und Planung
Dr. Verena Jendrus: Die Hängung im Ausstellungsraum wird seit Beginn der Werkauswahl mitgedacht. Zunächst indem der Umfang der künftigen Ausstellung an die Kapazitäten des Ausstellungsraums angepasst wird. Die fertige Ausstellung sowie die Ausstellungskonzeption sind also immer an den jeweiligen Ort gebunden. Während bei Museumsausstellungen mit mindestens einjährigem Vorlauf Leihanfragen an Institutionen und Sammlungen gestellt werden, um gezielt die verfügbaren Vintage Prints aus namhaften Museen zu bekommen, steht in einer Galerieausstellung das Verfügbarmachen von käuflich zu erwerbenden Fotografien im Vordergrund.
Die wichtigsten Kriterien bei der Planung der Hängung sind die inhaltlichen Bezüge sowie die räumlichen Begebenheiten. Hier muss berücksichtigt werden, ob entlang eines bestimmten, beispielsweise chronologischen Erzählstrangs gehängt wird oder welche räumlichen Besonderheiten und Anforderungen der Exponate die klare Zuordnung zu einzelnen Plätzen vorgeben. Je nach Institution, Art der Exponate und Praxis der Kuratoren, wird eine Ausstellung in der Planungsphase vollständig durchgeplant und visualisiert oder erst während des Hängens im Raum entschieden. In kleineren Institutionen findet die finale Entscheidung zur Hängung meist erst im Raum statt.
Die Hängung
Dr. Verena Jendrus: Und dann, mit Ende der vorherigen Ausstellung, ist es endlich soweit: Der schönste Teil des Ausstellungsmachens beginnt. Die gerahmten Fotografien kommen in den leeren Ausstellungsraum und fügen sich dort zur Ausstellung zusammen.
Die Rahmen werden entsprechend der zuvor erstellten Hängeidee am Boden aufgestellt. Sobald alle Fotografien im Raum platziert sind, kann überprüft werden, ob sie sich in den angedachten Bilderfolgen und Paarungen unterstützen oder ob die Hängung an manchen Stellen korrigiert werden muss. Die finale Hängung wird bestimmt von anfänglich festgelegten Blickachsen sowie Leitmotiven und ist in Zusammenspiel von formalen und inhaltlichen Kriterien. Egal wie die Ausstellung konzipiert ist, die fertige Ausstellung besteht immer aus unterschiedlichen Ebenen: Die visuelle Zusammenschau der Exponate, die vorhandenen Begleittexte oder verfügbaren Publikationen sowie die Ausstellungsdidaktik während des Ausstellungszeitraums.
Was man im Zusammenhang mit Ausstellungen nie vergessen sollte und sie gleichzeitig besonders spannend macht: Bereits das Auswechseln einzelner Motive in der Werkauswahl kann die gesamte Ausstellung verändern. Ebenso würde ein anderer Kurator eine andere Anordnung hervorbringen - das Kuratieren einer Ausstellung ist ein ebenso individueller Prozess wie das Fotografieren. Kuratoren und Fotografen liefern subjektive Perspektiven und Leserichtungen in einer vielfältigen Welt, welche alles andere als objektiv ist.
Ausstellungsdauer: 17. Oktober 2025 bis 17. Januar 2026
Öffnungszeiten: Montag bis Freitag: 10-18:30 Uhr, Samstag: 10-18 Uhr